04
Nov
2016
17:34 PM

"Ich fühle was, was du nicht fühlst"

Wir stellen den im August 2016 erschienenen Synästhesieroman von Amelie Fried vor. Die Autorin ließ sich im Vorfeld von der Deutschen Synästhesie-Gesellschaft hinsichtlich der im Buch geschilderten Synästhesieform beraten. Rezensiert von DSG-Mitglied Ruth Regehly.

„Lieber wäre ich normal. Aber vielleicht wäre das langweilig.“ Amelie Fried schildert in ihrem neuen Roman das Erwachsenwerden des Teenagers India in den siebziger und achtziger Jahren. India lebt mit ihrem Bruder Che in einer zumindest damals ungewöhnlichen Familie. Die Eltern sind Hippies und veranstalten Kunsthappenings im Garten ihres Hauses. Diese und auch der Hauch von Esoterik und New Age (und auch hin und wieder von Joints) kommen in der eher biederen Nachbarschaft nicht gut an.
India, aus deren Perspektive erzählt wird, fühlt sich fremd und emotional vernachlässigt. Die Familie ihrer einzigen Freundin Bettina ist dazu das bürgerliche Gegenstück: Der Vater Musiklehrer in der Schule, die Mutter Hausfrau.

India bemerkt, dass ihre Wahrnehmungen vielfältiger und feiner sind als die anderer Menschen. Halt findet sie im Klavierunterricht. Da zeigt sich ihre Synästhesie darin, dass sie Klänge körperlich, d.h. haptisch als Berührung empfindet. Zu ihrem Lehrer fasst sie Vertrauen und bespricht sich mit ihm, nicht ahnend, dass er dieses Vertrauen später missbrauchen und sie damit erpressen wird. Die Infamität, die Raffinesse des Lehrers, der dafür sorgt, dass niemand India Glauben schenkt, ist bedrückend eng und glaubwürdig geschildert.

Amelie Fried gelingt es, auch die zweite Hauptfigur, den Bruder Che, überzeugend zu gestalten. Che sucht den Halt, den ihm die Eltern nicht geben können, zunächst in einer neonazistischen Jugendgruppe. Hier kann er bewusst den größtmöglichen Gegenpol zur Lebensweise seiner Eltern setzen. Allein die Schilderung, wie unerhört mutig und listig, für ihn aber beschämend, India ihren Bruder daraus „rettet“, ist die ganze Geschichte wert. Später besinnt er sich, wie er meint, familiärer Wurzeln und will (ausgerechnet) zum Judentum übertreten.
Wie es India gelingt, sich aus dem (auch) emotionalen Missbrauch zu lösen, wie Che auch die letzte Möglichkeit, sich selbst zu verorten, zerrinnt und wie beide gerade dann ihren Weg finden, ist berührend und ermutigend zugleich. Dies betrifft ebenso die scheinbare bürgerliche Idylle der Familie Bettinas.

Ich habe diese vielschichtige und dennoch leicht erzählte Geschichte sehr gern gelesen; gerade auch wegen Amelie Frieds Sinn für Humor und zuweilen absurd-komische Situationen. Ich finde die synästhetische Wahrnehmung gut beschrieben und eingeflochten. Meine Freundin und ihre Tochter, beide keine Synästhetinnen, vermissten allerdings eine Erklärung oder einen Hinweis innerhalb der Erzählung. „Wenn ich nicht von dir gewusst hätte, was das ist und wie es heißt, wäre ich mit der Lektüre nicht zurecht gekommen“. Für eine 2. Auflage, die der Roman durchaus verdient, wäre vielleicht ein Vorspann ratsam, der einen kurzen Einblick in das Phänomen der parallelen bzw. multimodalen Reizverarbeitung gewährte.

Ruth Regehly

Heyne Verlag 2017, ISBN 978-3-453-26590-5



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