Was ist Synästhesie?

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Eine Begriffserklärung und die wichtigsten Merkmale

Synästhesie bezeichnet eine Variante der Kognition, basierend auf einer neuronalen Gehirnstruktur, bei der verschiedene Gehirnareale auf besondere Art und Weise miteinander in Verbindung stehen. Dadurch werden bestimmte Wahrnehmungsphänomene und Denkprozesse ermöglicht werden, die in einem „neuro-typischen“ Gehirn nicht möglich bzw. anders geartet sind.

Synästhesie ist keine Krankheit, sie ist eine physiologische Variante menschlichen Bewusstseins, die Synästhet*innen überwiegend Vorteile und in bestimmten jedoch selteneren Situationen auch Nachteile bringen kann (siehe unten).

Etwa 4% der Bevölkerung weisen mindestens eine Form von Synästhesie auf. Aufgrund der Häufung in Familien wird eine (inkonsistente) Erblichkeit angenommen.

Das Wort Synästhesie ist abgeleitet von den altgriechischen Wörtern syn (= zusammen) und aisthesis (= Empfinden). Synästhesie bedeutet also übersetzt die Miterregung eines primär nicht beteiligten Gehirnareals. Typische synästhetische Wahrnehmungen beruhen somit auf zusätzlichen neuronalen Verbindungen zwischen zwei oder mehreren Gehirnarealen, die Sinnesreize (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Propriozeption, Fühlen - taktile und haptische Wahrnehmung) verarbeiten. Es gibt in synästhetisch begabten Gehirnen aber auch Verknüpfungen anderer neuronaler Strukturen und Bereiche, die für Gefühle/Emotionen, für Gedächtnis, für Intelligenz und andere kognitive Phänomene zuständig sind. Die Gehirne von Synästhet*innen zeigen vermehrt graue Substanz (Nervenzellen) in verschiedenen Bereichen und in anderen Bereichen eine erhöhte Dichte an weißer Substanz (Nervenverbindungen). Die Forschungen hierzu sind hochfaszinierend und noch lange nicht abgeschlossen.

Typische Beispiele für synästhetische Wahrnehmungen sind das farbiges Hören, also das Visualisieren von Tönen in Farbe und/oder Form vor dem inneren Auge oder auch das konsistente Zuordnen von Farben zu bestimmten Zeichen (Zahlen oder Buchstaben), die Graphem-Farb-Synästhesie. Weiterhin können Wörter nach etwas schmecken oder ein Geruch kann eine Farbwahrnehmung hervorrufen usw. Sämtliche Verknüpfungen zwischen den Sinnen sind denkbar und teilweise auch schon beschrieben (siehe Synästhesie-Liste von Sean Day). Synästhetische Wahrnehmungen sind jedoch nicht nur an einen Reiz, ausgehend von einem peripheren Sinnesorgan, gekoppelt. Auch Gedanken und Vorstellungen können synästhetische Empfindungen auslösen. Eine Sequenz-Raum-Synästhesie zum Beispiel geht einher mit dem Visualisieren von Zeiteinheiten oder Zahlenkombinationen und ist damit unabhängig von einem äußeren Reiz.

Charakteristika von Synästhesien sind (nach J. Ward):
  • Auf einen Reiz (inducer, triggering stimulus) folgt eine synästhetische Wahrnehmung (concurrent).
  • Synästhetische Wahrnehmungen sind unwillkürlich und unterliegen nicht der willentlichen Kontrolle, können aber durch bewusste Steuerung der Aufmerksamkeit (kurzzeitig) ausgeblendet werden.
  • Synästhetische Empfindungen sind ähnlich wie normale Wahrnehmungen, der auslösende Reiz kann eine Information aus der Außenwelt sein, jedoch auch ein Konzept (ein Gedanke, z. B. das Denken an einen Buchstaben, oder eine Idee).

Synästhet*innen sind normale Menschen, die in allen gesellschaftlichen Schichten und allen denkbaren Berufen zu finden sind, die jedoch ein Potenzial besitzen, das ihnen ihre besondere neuronale Strukturierung ermöglicht. Die Begabung zur Synästhesie ist entweder vorhanden oder nicht, in wie weit dieses Potenzial jedoch genutzt wird oder genutzt werden kann, ist individuell verschieden.

Beschriebene Merkmale von Synästhet*innen sind:
  • erhöhte Kreativität
  • erhöhte Merkfähigkeit
  • bessere Vorstellungskraft/Bilderdenken
  • bessere Detailwahrnehmung
  • verstärkte Sensibilität für Sinneswahrnehmungen
  • erhöhte emotionale Empathie

Verstärkte neuronale Tätigkeit, erhöhte Vorstellungkraft, in Kombination mit einer verstärkten Sensibilität können auch die Nachteile erklären, über die Synästhet*innen berichten; so kann es leichter zu Reizüberflutungen kommen bei lauter oder hektischer Umgebung und unter Umständen zu einer gewissen Angstreaktion auf unvorhergesehene oder nicht kontrollierbare Umwelteinflüsse.

Neben den oben beschriebenen neuronalen Gehirnstrukturen für die Verarbeitung von Sinnesreizen, Gedächtnis, Konzeptdenken und Vorstellungsvermögen, ist auch das limbische System in den synästhetischen neuronalen Schleifen eingeschlossen. Dieser Umstand erklärt, dass Synästhet*innen in der überwiegenden Anzahl der Fälle ihre Synästhesien als sehr angenehm und tatsächlich unentbehrlich beschreiben, es jedoch auch zu verstärkten Reaktionen auf unangenehme, angstbesetzte Reize kommen kann.

Die Forschung zur Synästhesie ist noch jung, wenngleich in den letzten Jahren exponentiell stark gewachsen, sodass wir sicherlich in ein paar Jahren noch viel mehr zu diesem faszinierenden Phänomen berichten können.

Zu den häufigsten Synästhesieformen gehören:
  • Graphem-Farb-Synästhesie: Buchstaben und/oder Zahlen sind untrennbar mit einem Farbeindruck verbunden
  • Farbiges Hören: Geräusche und/oder Musik werden gleichzeitig in Farbe und/oder Formen wahrgenommen
  • Sequenz-Raum-Synästhesie: Zeiteinheiten wie z.B. Wochentage, Monate, das Jahr oder auch Ziffern besitzen eine bestimmte räumliche Anordnung bzw. Position vor dem inneren Auge
  • Ordinal Linguistic Personification (OLP): Grapheme werden nicht nur mit Farbe und Form, sondern auch mit einem Geschlecht, Charaktereigenschaften und ggf. Emotionen belegt.
  • Gefühls-Synästhesie: Emotionale Zustände werden farbig und/oder als Form wahrgenommen.
  • Person-Farb-Synästhesie: Persönlichkeiten wird eine jeweils charakteristische Farbe zugeordnet. Auch die Zuordnung von Ziffern ist möglich.
  • Ticker-Tape-Synästhesie: Wahrnehmung von gesprochenen, gehörten, gedachten Worten als „Newsticker“ oder durch Auftauchen der Worte für Sekundenbruchteile vor dem inneren Auge.
  • Lexikal-gustatorische Synästhesie: Worte haben eine bestimmte Geschmacksrichtung und/oder auf der Zunge spürbare Textur.
  • Andere Synästhesieformen: Oft werden auch Geschmacksrichtungen, Gerüche, oder Körperempfindungen, wie z.B. Schmerz durch eine synästhetische visuelle Empfindung begleitet.

Der US-amerikanische Anthropologe, Linguist und Synästhet Sean A. Day listet auf seiner Internetseite daysyn.com über 80 verschiedene Formen von Synästhesie auf. Diese Liste wächst kontinuierlich.

Ideasthesie

Ideasthesie ist eine Form von Synästhesie, oder besser gesagt ein Begriff, der bestimmte Wahrnehmungsphänomene bei Synästhet*innen noch zutreffender beschreibt.

Der Begriff „Synästhesie“, also Zusammen-Empfinden, wurde historisch gewählt, um zu beschreiben, dass bei Reizung eines Sinnes ein weiterer parallel mit angeregt wird. Beim Hören von Tönen entsteht z.B. auch ein Eindruck von Farbe und/oder Form, also ein visuelles Phänomen (Klang-Farb-Synästhesie/farbiges Hören). Oder beim Lesen und/oder Hören von Wörtern haben Wort-Geschmacks-Synästhet*innen ein gustatorisches Erlebnis im Mund (Lexikal-gustatorische Synästhesie). Diese verschalteten Sinneserlebnisse lassen sich treffend als Synästhesie beschreiben. Darauf gründete sich die Theorie der verknüpften Hirnareale (engl. Cross activation theory), die von seit Geburt über stabile Nerven- und Synapsenverbindungen verschalteten Hirnarealen der einzelnen Sinnesorgane ausgeht.

Dann gibt es jedoch bei zur Synästhesie begabten Menschen sehr häufig auch Phänomene, die sich mit einer reinen Verschaltung der Hirnareale für Sinnesempfindungen nicht ausreichend erklären lassen. So haben viele Synästhet*innen die Wahrnehmung, dass bestimmte Buchstaben oder Zahlen (Grapheme) farbig sind (Graphem-Farb-Synästhesie). Manche sehen auch Zahlen, Zeiteinheiten (Woche, Monat, Jahr, Jahrzehnte, Jahrhunderte, usw.) und andere abstrakte Begriffe (z.B. Zukunft, Vergangenheit) visuell räumlich angeordnet vor dem inneren Auge (Sequenz-Raum-Synästhesie). Gesprochene, gehörte und gedachte Worte werden visuell vor dem inneren Auge dargestellt und können mitgelesen werden (Ticker Tape Synästhesie). Gedanken und Vorstellung können als geometrische Formen und Farben visualisiert werden. Diese Wahrnehmungen treten bei einigen Synästhet*innen praktisch immer, bei anderen manchmal und bei wieder anderen nur selten oder sogar einmalig („one shot“) auf. Sie erlauben es den entsprechend wahrnehmenden Synästhet*innen abstrakte Konzepte zu konkretisieren und sie durch die Visualisierung sowie durch die Belegung mit Form, Farbe, Textur oder sogar Charaktereigenschaften besser zu verstehen und einzuordnen. So ist bspw. die Vorstellung einer Zahl, eines Wochentages, eines Gedankenganges oder auch einer Lösungsstrategie abstrakt und nicht einfach darzustellen oder zu erklären.

Diese synästhetischen Gehirnleistungen werden durch die aktuelle Synästhesieforschung besser erklärt, die davon ausgeht, dass syn-/ideasthetisch veranlagte Menschen in der Lage sind, abstrakten Konzepten eine Bedeutung (Semantik) beizumessen und über Involvierung von Bewusstsein, Lernen und Gedächtnisbildung Abstraktes zu konkretisieren. Die Verarbeitung läuft also über höhere kognitive Fähigkeiten und nicht auf Basis der reinen Verschaltung von Sinnesorganen (Conceptual level theory). Hierfür eignet sich zutreffender der Begriff „Ideasthesie“, also das Empfinden einer Idee bzw. die Wahrnehmung eines Konzeptes. Ebenfalls gebräuchlich ist der Begriff „Konzept-ästhesie/Konzeptesie“, der sich jedoch nicht allgemein durchgesetzt hat.

So erhält ein Graphem, das als A wahrgenommen wird eine Farbe; wenn es als H mit oben angenäherten vertikalen Strichen erkannt wird, jedoch nicht (oder anders herum). Ein gesehener Reiz muss also zuerst eine bestimmte Bedeutung erhalten, bevor er syn-/ideasthetisch mit weiteren Eigenschaften belegt wird.

Die meisten Synästhesien lassen sich als Ideasthesien auffassen, die Forschungsergebnisse dazu sind jedoch weiter uneinheitlich (Stand 2020). Ob sich mit besseren und neueren Erkenntnissen allgemein der Begriff Ideasthesie durchsetzen wird und den der Synästhesie ablöst, bleibt abzuwarten.

Sensorischen Erfahrungen eine Bedeutung beizumessen, sie also semantisch zu erfassen, können dabei sogar die allermeisten Menschen (Kiki-Bouba-Effekt). Bei Synästhet*innen ist dies stärker ausgeprägt und wird bewusster wahrgenommen. Die Erforschung der Synästhesien/Ideasthesien erlaubt so tiefere Einblicke in das menschliche Bewusstsein im Allgemeinen, was allen Menschen zugutekommen kann.

Siehe auch: Ideasthesie in der Wikipedia

Synästhesie ist keine Erkrankung, Halluzination oder Einbildung.

Synästhesie als neurobiologisches Phänomen ist eine physiologische Normvariante menschlichen Denkens. Synästhetische Phänomene sind mittels moderner, bildgebender Verfahren in der Medizintechnik, aber auch in psychologischen Tests eindeutig nachweisbar. Sie sind konsistent nachweisbar und meist lebenslang gleichbleibend. Entfernt daran erinnernde Phänomene nach Erkrankungen oder unter Drogeneinfluss sind vorübergehender Natur und nicht zu verwechseln mit der gesunden, angeborenen sog. genuinen (echten) Synästhesie.

Synästhet*innen weisen weit mehr Übereinstimmungen in der Kognition mit anderen Menschen auf als Unterschiede. Synästhet*innen sind somit „normale“ Menschen mit einer zusätzlichen Begabung was die Verarbeitung von Sinnesreizen sowie die Wahrnehmung und das Denken betrifft. Die synästhetischen Wahrnehmungen werden von den jeweiligen Synästhet*innen selbst als völlig normal empfunden, viele sind erstaunt, wenn sie erfahren, dass nicht jeder so denkt und empfindet wie sie selbst.

Oft dienen synästhetische Wahrnehmungen unbewusst als Erinnerungshilfe und Orientierung im Alltag. Die Synästhesie kann z.B. bei der Beurteilung von Situationen oder körperlichen Befindlichkeiten (z.B. Einordnung von Schmerzen durch visuelles Empfinden) eine Hilfe sein. Rechtschreibung wird durch eine Ticker-Tape-Synästhesie erleichtert. Zahlenkombinationen können durch eine Graphem-Farb-Synästhesie leichter auswendig gelernt werden. Die zusätzliche Fähigkeit wird von den meisten Synästhet*innen als bereichernd, unverzichtbar und wesentlicher Bestandteil der eigenen Identität empfunden.


Wissenschaftliche Erforschung der Synästhesie

Die Forschungen des Neurologen und Neuropsychologen Richard E. Cytowic zum Thema Synästhesie, die 1980 zu dem Buch „The Man Who Tasted Shapes“ und 1982 zu zwei Veröffentlichungen in der Zeitschrift Brain & Cognition führten, waren der wesentliche Anlass für das Wiederaufleben des Themas Synästhesie (und dessen wissenschaftliche Erforschung) um 1980.

Ging man in den 1990er Jahren noch von einer Häufigkeit von 1: 2000 - 1:1000 in der Gesamtbevölkerung aus, weisen die jüngeren Studien mit objektiven Messkriterien auf einen wesentlich höheren Prozentsatz von mindestens 4 % hin. Diese Tatsache und auch die immer besseren Untersuchungsmöglichkeiten dürften dafür verantwortlich sein, dass das Interesse an der wissenschaftlichen Erforschung der Synästhesie international spürbar wächst und derzeit einen regelrechten Boom erlebt. Das Interesse an der Synästhesie ist auch darin begründet, dass man sich Erkenntnisse über kognitive Vorgänge bei allen Menschen erhofft, wie konkret zum Beispiel in der Gedächtnisforschung. Mit den neuen Erkenntnissen verbunden ist die Aussicht, auch erkrankten Menschen helfen zu können.

Die Synästhesieforschung ist weltweit aktiv, vor allem in England, den USA und Australien. Auch in Deutschland und der Schweiz wird viel zur Synästhesie geforscht. Forschungsstandorte in Deutschland sind derzeit: Medizinische Hochschule Hannover, Universität Regensburg, Forschungszentrum Jülich.

Die DSG kooperiert mit den bekannte Forschungsstandorten, sowie mit anderen nationalen und internationalen Synästhesie-Gesellschaften.

Mehr zum aktuellen wissenschaftlichen Stand samt Quellen finden Sie →hier.


Bekannte Synästhet*innen

Synästhet*innen sind wie bereits ausgeführt häufig zu besonderen Leistungen befähigt, was Gedächtnis, Intelligenz und Kreativität betrifft. Viele künstlerisch begabte Menschen sind Synästhet*innen, unter Künstler*innen sind es weit mehr als die durchschnittlichen 4%. Nicht jeder jedoch, der sich als Synästhet*in bezeichnet, hat auch die echte, angeborene Form (genuin); manches Mal muss man da auch genauer nachfragen, da gerade unter Künstler*innen die Synästhesie als modern und erstrebenswert gilt!

Berühmte Synästheten waren z.B. der Physik-Nobelpreisträger Richard Feynman und vermutlich auch der Erfinder Nikola Tesla; ebenso die Komponisten Franz Liszt, Jean Sibelius, Olivier Messiaen, Nikolai Rimsky-Korsakov, Leonard Bernstein, György Ligeti sowie der Autor Vladimir Nabokov. Der Maler Wassily Kandinsky nutzte seine Gabe, um besonders „musikalische“ Bilder zu malen. Ebenso ist es sehr wahrscheinlich, dass Vincent van Gogh Synästhet war.

Heute bekannte Synästhet*innen soweit nach aktuellem Kenntnisstand bekannt sind z.B. Musiker/innen wie Lady Gaga, Lorde, Mary J. Blige, Tori Amos, Billy Joel, Pharell Williams und Chris Martin, der Sänger der britischen Band „Coldplay“. Ebenso die französische Pianistin Hélène Grimaud, der kalifornische Maler und Bühnenbildner David Hockney und der Comiczeichner Michel Gagné („Ratatouille“).
Diese bekannte Szene aus dem Film „Ratatouille“ zeigt die Synästhesieform, bei der eine Geschmacksempfindung eine visuelle Mitempfindung auslöst:


Siehe auch: → Synästhesie-Lexikon → Synästhesie-Links
Extern: → Wikipediaeintrag zu Synästhesie